MS Tanzwerk's neue faszinierende Produktion zu Kleist


"Begeisterter Applaus für dramatische und bildmächtige Geschichte. Der neue Tanzabend der Compagnie ms-tanzwerk „Expected Overlaps“ macht optisch auf der Bühne einiges her. Mario Heinemann Jaillet ist ein Fachmann für Schnittstellen. Für die zwischen Tanz und Bewegung, zwischen Performance und Provokation... Um Grenzen und Distanzen geht es
Heinemann." ... " Seine kühle Distanz zum Tanz ist gewollt. ... Nicht die Virtuosität des Tanzes steht hier im Vordergrund, sondern die Durchforstung Kleistscher Denkprozesse. " Geschickt flechtet der Choreograf und Regisseur die beiden Erzählstränge ineinander...Was als satirische Spitze Kleists gegen das zeitgenössische Theater Ifflands gedacht war, bildet Heinemann auf das jugendliche Selbstmörderpaar Kleist/Vogel – und einen trefflichen Puppenspieler ab. Werner Ries lässt die Zuschauer brav chorisch die berühmte Anwesenheitsfrage bejahen und beherrscht auch sonst sein Handwerk sprachlich wie puppenspielerisch exzellent. Er bleibt im altväterlichen Jahrmarktsduktus von einst und kippt das Kasperl-Theater in maliziösen Gewaltorgien Richtung Faust, Don Giovanni und Quentin Tarantino."
Mit exzellenten Darstellern leuchtet MS Tanzwerk diesmal Kleist aus."

Mannheimer Morgen, Die Rheinpfalz, Jan Kirsch


Vom Tanz der Marionetten von Jeannette Neustadt

Heinrich von Kleist war ein großartiger Erzähler und Dramatiker. Ein Theoretiker war er nicht. Während sich seine Zeitgenossen fleißig ins philosophische Feld der Ästhetik einschrieben, bewirtschaftete Kleist lieber reale Äcker im schweizerischen Thun. Die berühmteste ästhetische Schrift des Autors erschien denn auch in einem ungewöhnlichen Rahmen. Im Dezember 1810 veröffentlichte Kleist seinen Aufsatz "Über das Marionettentheater" in den "Berliner Abendblättern", einem Zeitungsprojekt, das er zwei Monate zuvor gestartet hatte. Trotz seiner Kürze gehört dieser Text zu den meistdiskutierten Schriften seiner Zeit. Immerhin wird darin die Behauptung aufgestellt, dass wahrhaft anmutige Kunst allein den Marionetten vorbehalten bliebe.

Der Aufsatz ist in der Form eines Gesprächs über das Marionettentheater gestaltet. Dort nämlich trifft der Icherzähler einen gewissen Herrn C., erster Tänzer der Oper in M.

Für Herrn C. sind die antigraven Figuren an dünnen Fäden die anmutigsten Geschöpfe auf Erden. Die mechanischen Gliedermänner bewegen sich, so seine These, graziöser als jeder Mensch. Sie "brauchen den Boden nur, wie die Elfen, um ihn zu streifen ...; wir brauchen ihn, um darauf zu ruhen und uns von den Anstrengungen des Tanzes zu erholen."
Doch nicht nur die Schwerkraft hält den Menschen von vollendeter Anmut fern. Das Bewusstsein entpuppt sich im Laufe des Gesprächs "Über das Marionettentheater" als wahrer Feind natürlicher Grazie. "Denn Ziererei erscheint, wenn sich die Seele in irgendeinem andern Punkte befindet als in dem Schwerpunkt der Bewegung." Kurz, wenn der Mensch seine Bewegungen und Beweggründe reflektiert.
Kleist illustriert die aufgestellten Behauptungen anhand von zwei Beispielen: Der Erzähler erinnert sich an einen Jüngling, der sich vor einem Spiegel einen Splitter aus dem Fuß zog und bei diesem Anblick an den Abguss der Statue des "Dornausziehers" dachte. Diese Beobachtung machend, versuchte er vergeblich, die anmutige Bewegung zu wiederholen. "Er fing an, tagelang vor dem Spiegel zu stehen; und immer ein Reiz nach dem anderen verließ ihn", so der Icherzähler über die in Unordnung geratene Grazie des jungen Mannes. Herr C. hingegen berichtet von einem Fechtkampf mit einem Bären. Durch Finten ließ sich das Tier nicht beirren, nicht ernst gemeinte Stöße ignorierte es einfach, und jeden wirklichen Stoß parierte es gekonnt. Das bewusstseinsfreie Tier beherrschte seine Bewegungen vollkommen.
Dem Menschen und Künstler bleibt jener paradiesische Urzustand verwehrt. Damit negiert Kleist den Glauben Friedrich Schillers an eine Zeit des naiven Kunstschaffens. Arkadien wird von Kleist als einromantischer Mythos entlarvt. Doch weisen manche seiner Figuren wie etwa das "Käthchen von Heilbronn" durchaus Ähnlichkeiten mit Marionetten an seidenen Schicksalsfäden auf.

Jeannette Neustadt

Fotos: Günter Krämmer
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Quelle: Welt Online

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